Schmetterlinge

Schmetterlinge

 

Es war in der Pfingstwoche des Frühjahrs 2009 in einem Naturpark nahe der französischen Grenze in Katalonien, als meine kleine Schwester starb. Dort, in einem kleinen Fischerdorf, verbrachten wir unsere Ferien, heiße und sorglose Ferien sollten es werden, und die erste Hoffnung erfüllte sich auch. Wer sich noch nie in Katalonien aufgehalten hat zu dieser Jahreszeit, weiß nichts von der Sonne dieser Tage, die zum ersten Mal mit voller Stärke herabzublicken beginnt, immer jedoch umrissen von einer Kälte, die nachts aus den gekachelten Böden der Gebäude aufsteigt und die, sobald der Schatten der plötzlich und unverhofft aufziehenden Wolken die Erde trifft, sich dort sammelt und mit dem vom Meer kommenden Wind vermischt. Er weiß nicht vom zarten Grün, das die Machia mit einem Flor der Schönheit überzieht, nicht ahnend seiner Vernichtung durch die im Lauf des Sommers an Kraft erlangende Sonne. Jene ersten unschuldigen Tage, die wir dort verbrachten, waren selbst für diese Jahreszeit mit ungewöhnlicher Schönheit gesegnet: Die ringsum liegenden Berge glichen in ihrem Blütenschmuck einem Garten Eden und die Kälte schien sich bereits völlig zurückgezogen zu haben und verweilte nur in der Tiefe des Meeres und den gelegentlichen Winden. An jenem schicksalsvollen Tag deutete nichts auf eine Störung dieses Paradieses hin; allein der Tramuntana peitschte die Kiesel auf der Straße auf und trieb den Sand jedem ins Gesicht, der es wagte, das Haus zu verlassen. Eine gewisse Unruhe hatte uns erfasst; eingesperrt zwischen den weißgetünchten Wänden strichen meine Brüder umher wie Tiere, denen man seit Tagen keinen Auslauf gewährt hatte. Am Tag zuvor hatten wir den 6. Geburtstag meiner kleinen Schwester gefeiert, jetzt, als die Unruhe sich endgültig Bann brach, fuhren wir in die Berge hinauf, die Katalonien von seinem Nachbarland trennen, jene wilden und ungefügen Berge, von deren Ausläufern die Costa Brava ihren Namen trägt, deren Schroffheit jetzt aber vom lieblichen Grün des Frühlings bedeckt war. Dort, in einem Tal, beschützt von den Spitzen der Berge, fühlten wir den Tramuntana nicht mehr, himmlische Ruhe umgab uns, das üppige Grün verlockte zum Erkunden der unzähligen schmalen Pfade, die teilweise in einem Rundweg zum Ausgangspunkt zurückführten, teilweise sich auch im Gestrüpp der Machia verliefen. Wir folgten einem der Pfade, der uns zum Kloster des dortigen Tals führen sollte, dessen halbverfallene Ruinen in der Mitte des Naturparks versteckt waren. Doch Noema blieb ruhelos, wie meine Brüder, wie ihre große Schwester vorgelaufen war, so wollte sie es auch. Wir erklärten ihr den Weg und ließen sie, bald würde sie auf ihre Brüder stoßen, die nur von den Windungen des Wegs verdeckt, wenige Meter vor uns liefen, bald auch würde sie ihre große Schwester und deren Freundin sehen, die sich an die Spitze der Gruppe gesetzt hatten. Doch ihre kleinen Brüder gingen fehl, in einen der Seitenpfade eingedrungen, riefen wir sie, bevor wir den Weg zum Kloster fortsetzten. Erst als uns der Weg zum Ausgangspunkt zurückgeführt hatte, dann erst trafen wir auf ihre große Schwester und dann endlich merkten wir, dass Noema fehlte. Da war es bereits zu spät.

 

Wir suchten die ganze Nacht. Während die Schatten und mit ihnen die Kälte zurückkehrte, die wir bereits ausgetrieben glaubten, wanderten wir die endlosen Wege des Naturparks entlang, verloren uns in Sackgassen und ausweglosen Träumen. Wenn doch nur, wenn doch …

 

Irgendwann ging meine Mutter zurück, um nach meinen kleinen Geschwistern zu sehen, wir suchten weiter. Die Nacht war erfüllt vom Schein der Taschenlampen hunderter von Menschen, von denen sich die Dunkelheit nicht vertreiben ließ, heiseren Rufen und dem Bellen der Suchhunde. Während unsere Stimmen rau wurden, dachte ich an meine kleine Schwester, wie sie gerannt war, um die anderen einzuholen, dachte daran, wie sie bei einem Film geweint hatte, in dem eine alte Frau gestorben war.

 

Wenn doch nur, wenn doch …

 

Der Wind riss uns die Rufe von den Lippen.

 

Am Mittag des nächsten Tages, als das Licht der Sonne wieder die Felsen und Klüfte der rauen Berge auffüllte, fand man sie. Sie war dem Pfad, ohne abzubiegen, bis zu seinem Ende gefolgt, der Pfad, der sie an die wilde Küste Kataloniens geführt hatte, an dessen Ende man das Meer überblickte und wo die an den Felsen zerschellende Brandung die Ohren betäubte. Sie war dem Pfad bis zu seinem Ende gefolgt, dann hatte sie ihren schmalen Körper durch die dornenbewehrten Zweige der Machia gezwängt und war, ohne anzuhalten, über den Rand der Klippen gelaufen. Als sie merkte, dass sie zu weit gelaufen war, war es bereits zu spät. Merkte sie es?

 

Wir saßen in unserem Haus, eingesperrt zwischen den weißgetünchten Wänden und draußen heulte der Tramuntana. Meine Eltern strichen umher wie wilde Tiere, denen man seit Tagen keinen Auslauf gewährt hatte. Ich saß an einem der Fenster und blickte auf die Straße, auf der der Wind die Kiesel aufpeitschte und jedem, der es wagte, das Haus zu verlassen, den Sand in die Augen trieb. Ich dachte an Noema, meine kleine Schwester, die erst vor drei Tagen sechs geworden war und nicht mehr älter. „Was ist das?“, fragte meine andere Schwester und wies auf die Straße, wo der Wind Sand aufwirbelte und Blätter durch die Luft tanzen ließ. „Herbstblätter“, sagte ich und so musste es sein, Blätter vom vergangenen Herbst, die die Regenströme des Winters überdauert hatten und nun vor unserem Haus einen eigenwilligen Tanz aufführten. „Nein“, sagte meine Schwester, „nein“, und als ein Blatt vom Wind ergriffen vor unserer Fensterscheibe vorbeiflatterte, sah ich, dass es Schmetterlinge waren, tausende braunrot gefleckter Schmetterlinge, die durch unsere Straße dem Meer zuzogen und gemeinsam und mit hoffnungsvollem Staunen betrachteten wir ihren zerbrechlichen Tanz mit dem Wind, der erst drei Stunden später endete.

 

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