Angelegenheiten des Haares

Angelegenheiten des Haares

Letzte Woche war ich zum ersten Mal seit langer Zeit – an das letzte Mal bewahre ich mir nur noch vage Erinnerungen, ich muss damals im Vorschulalter gewesen sein, an einen weißen Raum mit an Metallarmen befestigten umgestülpten Schüsseln unter denen Frauenköpfe verschwanden, den ich mit meiner Großmutter betrat – in einem Friseursalon, um mir die Haare schneiden zu lassen. Ich weiß, ich gehöre damit zu einer seltenen Spezies von Mensch, der Normalbürger besucht heutzutage, habe ich mir sagen lassen, mindestens einmal pro Monat (!) einen jener Orte des Schreckens, um sich die Haare wellen, locken, färben oder zumindest kürzen zu lassen. Ich setze mich damit ganz bewusst außerhalb der gängigen Norm und mich selbst in einen Status der Originalität, den ich mir auch sonst gerne vor dem Null-acht-Fünfzehn-Otto-Normalverbraucher bewahre. In den Jahren meiner Pubertät durften diesem Privileg, das normalerweise Friseurinnen ausüben, nur meine Mutter oder eine ihrer Freundinnen, ihres Zeichens selbst diesem Berufsstand zugehörig, nachkommen. Während der Prozedur, die nie in etwas Phantasievollerem bestand als der Kürzung meines gehüteten Haupthaars um einige wenige Zentimeter, unterhielt mich meine Mutter gängigerweise mit Gruselgeschichten über ihre Zeit als Studentin, als sie noch über Haar verfügte, das ihr bis zum Bauchnabel reichte und welches in einigen kurzen Sitzungen im Frisörsalon gnadenlos auf die heutige mittelmäßige Schulterlänge zurechtgestutzt worden war, und dem es seither nie wieder gelang auf die geforderte Länge nachzuwachsen. Seit dieser Zeit (Orginalton meine Mutter) habe sie nie wieder einen Friseursalon betreten, sondern verlasse sich stattdessen auf die Dienste ihrer Getreuen (ihre Freundin nickt bestätigend), was sie auch nie bereute. Kein Wunder also, dass ich, fern der heimatlichen Dienste, diesen so notwendigen Schritt der Kürzung meines mittlerweile doch ziemlich ausgefuselten Haars so lange wie möglich hinauszögerte. Als ich mich schließlich doch mit klopfendem Herzen und angespannten Nerven auf den Weg machte, geschah dies in dem Bewusstsein, einen heroischen Akt der Selbstüberwindung zu begehen. Das erste Problem stellte sich mir jedoch, kaum hatte ich den Ort mit der größten Dichte an Friseursalons erreicht, sofort: Welcher sollte es denn nun sein, der Billigfriseur mit Blick auf die Hauptverkehrsstraße und Glasfront, durch die einen sämtliche vorübergehende Passanten anglotzten? Der teure Grieche, auf dessen Werbefotos die Frauen aussahen, als ob sie Perücken trugen, so gelockt und getürmt präsentierte sich ihre Haarpracht? Der hippe Laden, den man garantiert mit einem assymetrischen Schnitt verließ? Der neueröffnete Salon um die Ecke, von dem ich einen Werbeflyer samt Rabatt-Angebot in meinem Briefkasten gefunden hatte? Ich entschied mich schließlich für den goldenen Mittelweg – einen modern wirkenden Salon, dessen Preise moderat schienen und der diskret in einer wenig belebten Straßenecke der Altstadt untergebracht war. Nachdem ich solchermaßen meine Wahl getroffen hatte, schlich ich noch einige Male unauffällig am Laden vorbei, bis ich mich schließlich überwand und die Glastür aufstieß. Innen erwartete mich tatsächlich eine müßige Angestellte, deren gesleekte, gesträhnte und mit einem stylischen Pony versehene Frisur auf hundert Meter Entfernung ihren Berufsstand verriet. Unter ihrem aufmunternden Blick trat ich zögerlich näher und brachte mein Anliegen vor.

„Sind sie denn überhaupt frei?“, fragte ich, in einem Versuch das Unausweichliche hinauszuzögern und auf eine verneinende Antwort hoffend.
„Ja“, sagte sie.
Ich: „Wie lange dauert das denn so?“ (Ich hatte nur eine Stunde zur freien Verfügung).
Sie: „Zwanzig Minuten“.
Ich: „Und wieviel kostet es?“ (Ich hatte nur vierzig Euro. In meiner Unerfahrenheit nahm ich an, das so etwas Extravagantes wie ein Friseurbesuch astronomische Summen verschlingen würde).
Sie: „Neunzehn Euro.“
Die Weichen waren gestellt, die Würfel gefallen oder was der pathetischen Ausdrücke mehr sind. Ich fügte mich in mein Schicksal und nahm kleinlaut auf dem mir zugewiesenen Stuhl Platz.

„Was für ein Haarschnitt soll's denn sein?“, fragte sie, während sie mich mit einem Plastiktuch meiner Bewegungsfreiheit beraubte. „Wie wäre es mit stufig?“, entgegnete ich fesch. Hier half nur Flucht nach vorne. „Stufig geht nur ab einer gewissen Haarlänge, dafür müsste ich bei Ihnen schulterlang schneiden, aber so kurz wollen sie wohl nicht?“ Stumm verneinte ich. Nach einer Beratung, in der meine Peinigerin viel sprach, ich dagegen wenig, hatten wir uns auf einen Haarschnitt geeinigt: Sie würde nur soviel abschneiden wie gerade nötig, dafür aber das Haar vorne so kürzen, dass es mir verspielt und mädchenhaft ins Gesicht fallen würde. Das klang besser als erwartet und ich entspannte mich. Während der nun folgenden Prozedur versuchte ich meine Erregung in Grenzen zu halten, d.h. ich stellte mich tot und ignorierte geflissentlich sämtliche Zeitschriften und Haarprodukte, die mir zur Unterhaltung und Belehrung hingelegt wurden. Als das Werk vollendet war, waren beide, ich und die Friseurin, erleichtert, wahrscheinlich bedrückte sie mein beharrliches Schweigen. Mit der Geste eines Zauberkünstlers zog sie mir das Plastiktuch von den Schultern. Ich starrte in den Spiegel und spürte wachsende Panik in mir aufsteigen. Das sollte mein neues Ich sein? Aber die Haare waren ja viel zu kurz! War zuvor nicht die Rede von Schadensbegrenzung und „nicht schulterlang“ gewesen? Zugegebenermaßen, das Haar der Frau, die mich erschrocken aus dem Spiegel heraus anblickte, hatte um ein weniges mehr als Schulterlänge, aber es fehlten mindestens zwanzig Zentimeter zur vorigen. Ich warf einen verzweifelten Blick auf die Haarsträhnen, die fächerförmig am Boden neben meinem Sitz verteilt waren. War es möglich, sie wieder anzukleben? Zumindest teilweise? Statt meine aufwallenden Emotionen zu zeigen, ging ich, in dem Bemühen mich souverän und weltgewandt zu geben, ohne Beschwerde zur Kasse und zahlte. Den Nachhauseweg legte ich im Schockzustand zurück. Während ich mich meiner Wohnungstür näherte, fühlte ich bereits die ersten Anzeichen der aufkommenden Hysterie und sobald ich die Wohnung betrat und meinen Freund alleine vorfand, warf ich mich aufheulend in seine Arme.
Hier ist ein kurzer Einschub nötig, um die Situation besser zu verstehen: Mein Freund ist der beste Freund der Welt. Zwar zieht er manchmal über die maßlose Verwendung von Kosmetika bei anderen Frauen her, aber nie bei mir. Was bei näherer Überlegung allerdings auch damit zusammenhängen könnte, dass ich kaum welche benutze. Was tat er also in der gegebenen Situation? Man stelle sich vor, er sitzt am Laptop, nichts Böses ahnend, als plötzlich die Wohnungstür mit einem Bombenschlag aufgeht und seine heulende Freundin sich in seine Arme wirft, während sie sich in unzusammenhängenden Sätzen über einen neuen Haarschnitt beklagt, den sie selbst herbeigeführt hat. Was also tut mein Freund? Er nimmt seine Freundin (mich) in die Arme und redet solange in beruhigender Tonlage und Gluckslauten auf sie ein (wie man das manchmal bei Babys macht), bis sie sich so weit beruhigt hat, dass sie ihren Klammergriff um seinen Oberkörper ein wenig lockert. Ich habe den besten Freund der Welt. Sag ich doch.
Gerade als ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich in der Lage war, mir die Tränen vom Gesicht zu wischen, klingelte es. Ich setze mich also so weit in eine Fassung, um unangemeldeten oder auch angemeldeten Besuch (in diesem Fall handelte es sich um letzteren) mit fröhlichem Gesicht empfangen zu können – man will seine Freunde schließlich nicht mit den eigenen alltäglichen Sorgen belasten. Und einen Rest Selbstachtung besitze ich außerdem noch – öffne meinem Bruder und seiner Freundin die Tür und was ruft mein Geliebter als Erstes, als er ihrer ansichtig wird? „Hi. Sie“, Zeigefinger auf mich, „hatte gerade einen hysterischen Anfall, weil ihre Haare geschnitten wurden. Sie hat geheult.“
Ich bin so froh, dass ich den besten Freund der Welt habe. Mit einem Schlechteren hielte ich es keine drei Minuten aus.

 

Write a comment

Comments: 0