Spannung aufbauen: Spinat und Süßigkeiten

Spannung aufbauen: Spinat und Süßigkeiten

Ein häufiges Problem von Geschichten ist das Verhältnis zwischen „guten“ Dingen, die dem Protagonisten widerfahren, und „schlechten“ auszutarieren – oder zwischen Süßigkeiten und Spinat. Süßigkeiten stehen dabei für die Dinge, die den Protagonisten in den Augen aller anderen gut aussehen lassen: Tom gewinnt einen Schwimmwettbewerb, wobei ihm ein Haufen beliebter Mädchen aus seiner Klasse zuschauen, die sich alle spontan in ihn verlieben. Anschließend kommt der Direktor der Schule und entschuldigt sich vor aller Augen dafür, dass er zuerst den Rivalen des Helden anmelden wollte – und das alles in der ersten Szene. Klingt zu süß? Ist es auch. Damit dem Leser von den vielen Süßigkeiten nicht schlecht wird, ist in Geschichten eine ordentliche Portion Spinat vonnöten.

 

Merke: Jede Geschichte braucht Spinat – aber nicht zu viel.

Spinat schmeckt bitter, ist aber wichtig für Tom, um sich weiterzuentwickeln. Schließlich hält ihn sonst nichts davon ab zu einem arroganten Ars… zu werden. Tom könnte sich z.B. mit stolzgeschwellter Brust seiner Angebeteten nähern, in der Erwartung, dass sie ihn (wie alle anderen) jetzt ebenfalls toll findet, nur um von ihr rüde zurückgewiesen zu werden. Seine Angebetete hat schließlich Standards und möchte nicht mit jemandem zusammensein, der es für sein Selbstbewusstsein braucht, von allen angehimmelt zu werden. Noch mehrere große Portionen Spinat sind nötig, bevor Tom schließlich seine Lektion gelernt hat, ein besserer Mensch geworden ist und sich seine Angebetete in ihn verliebt hat. Aber Vorsicht: Man kann es als Autor mit dem Spinat auch übertreiben.

In Robin Hobbs „Farseer-Trilogie“ widerfährt dem Helden Fitz ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Er ist von Anfang an ein Außenseiter, scheitert als königlicher Assassine bei jeder ihm gegebenen Aufgabe und verliert schließlich einen Großteil seiner Kräfte um am Ende als gebrochener und einsamer alter Mann in einer Hütte am Meer zu leben. Als Leser hofft man bis zum Ende vergeblich auf den kleinsten Triumph und legt das Buch schließlich frustriert zur Seite.

Wie also sollte man das Verhältnis zwischen Spinat und Süßigkeiten austarieren? Bei dem richtigen Verhältnis kommt es natürlich immer auch auf die Art der Geschichte an: Ein Kinderbuch benötigt weniger Spinat als eine Dark Fantasy-Geschichte. Die Regel dabei ist: Spinat und Süßigkeiten sollten sich abwechseln. Also erst eine große Portion Spinat, dann ein paar Süßigkeiten, dann wieder Spinat …

 

Im Zweifel sollte man als Autor aber auf jeden Fall mehr Spinat verwenden. In „Magic Academy – Das erste Jahr“ erleidet die angehende Magierin Ryiah einen Fehlschlag nach dem anderen – erst ganz zum Schluss gelingt es ihr, tatsächlich als eine der wenigen Lehrlinge aufgenommen zu werden. Diese großzügige Verwendung von Spinat ist wohl der Hauptgrund, warum „Magic Academy“ so erfolgreich wurde – Ryiah muss kämpfen, was eine starke emotionale Bindung zum Leser schafft.

Um einem weiteren Fallstrick zu entgehen, ist ein letzter Punkt wichtig: Spinat kann nicht mit Schwierigkeiten gleichgesetzt werden, Süßigkeiten nicht mit der guten Laune der Protagonistin. Wenn Tom hart für den Schwimmwettbewerb trainieren muss, er aber bereits einen riesigen Fanclub hat, der ihn für seine Ausdauer bewundert, bekommt Tom Süßigkeiten, keinen Spinat. Wenn Tina ein glücklicher Mensch ist, weil sie davon ausgeht, dass alle um sie herum sie lieben, aber ihre Freunde und Familie sie im Geheimen für ein Gebrechen bemitleiden, dann bekommt Tina in den Augen des Lesers Spinat.

 

Hinweis: Das Konzept von Spinat und Süßigkeiten habe ich einem Artikel von Chris Winkle entnommen: https://mythcreants.com/blog/the-best-characters-eat-their-spinach-and-their-candy/