Was hat Kvothe eigentlich in seiner Kiste

Was hat Kvothe eigentlich in seiner Kiste?

Die wohl größte Frage, die sich jeder Leser des „Namen des Windes“ stellt, ist, wie Kvothe in die Situation gekommen ist, in der wir ihn am Anfang des ersten Bandes antreffen. Statt der mächtige Magier, als der er sich im Laufe des Buches entpuppt, ist er ein einfacher Wirt in einem Dorf „far away from everywhere“ wie Chronicler sich ausdrückt. Er nennt sich Kote und er scheint sämtliche seiner Fähigkeiten verloren zu haben. Als Bast die Wegelagerer dazu aufstachelt, das Wirtshaus auszurauben, kann Kvothe sie nicht mit seinen bei den Adem erlernten Kampfkünsten außer Gefecht setzen. Stattdessen wird er übel zusammengeschlagen. Als der Mael den Körper eines anderen Wegelagerers besetzt und das Wirtshaus heimsucht, versucht Kvothe ihn unter Zuhilfenahme von Sympathie in Brand zu stecken – erfolglos. Tatsächlich ist er nicht mehr Kvothe – der „Sprechende“, der über den Namen des Windes gebietet, sondern einfach nur noch Kote. Ein Teil seiner Persönlichkeit ist ihm abhanden gekommen – genau wie in seinem Namen zwei Buchstaben fehlen. Und natürlich ist da die ominöse Kiste, die bereits im allerersten Kapitel des Buches beschrieben wird:

 

 

 

A skilled observer might notice there was something his gaze avoided. The same way you avoid meeting the eye of an old lover at a formal dinner, or that of an old enemy sitting across the room in a crowded alehouse late at night. Kote tried to relax, failed, fidgeted, sighed, shifted in his seat, and without willing it his eyes fell on the chest at the foot of the bed.

 

It was made of roah, a rare, heavy wood, dark as coal and smooth as polished glass. Prized by perfumers and alchemists, a piece the size of your thumb was easily worth gold. To have a chest made of it went far beyond extravagance.

 

The chest was sealed three times. It had a lock of iron, a lock of copper, and a lock that could not be seen. Tonight the wood filled the room with the almost imperceptible aroma of citrus and quenching iron.

 

When Kote's eyes fell on the chest they did not dart quickly away. They did not slide slyly to the side as if he would pretend it wasn't there at all. But in a moment of looking, his face regained all the lines the simple pleasures of the day had slowly smoothed away. The comfort of his bottles and books was erased in a second, leaving nothing behind his eyes but emptiness and ache. For a moment fierce longing and regret warred across his face.

 

Then they were gone, replaced by the weary face of an innkeeper, a man who called himself Kote. He sighed again without knowing it and pushed himself to his feet.“ (Kapitel 1, DNDW)

 

 

 

Das ist eine lange Beschreibung in einem Buch, in dem wir noch so gut wie nichts über den Protagonisten und die Handlung erfahren haben. Was also ist in Kotes Kiste? Es scheint als könne sie nicht geöffnet werden. Kote fordert Bast als Teil einer Übung auf, genau das zu tun. Nachdem Bast über sieben Seiten alles in seiner Macht Stehende versucht hat, die Kiste zu öffnen, von Versuchen, die Schlösser mit einem Stück Draht aufzubekommen, bis hin zu roher Gewalt, gibt er schließlich auf. Die Schlösser lassen sich nicht öffnen, das Holz, aus dem die Kiste gefertigt ist, ist beinahe unzerstörbar; weder kann es verbrannt noch in Säure aufgelöst werden, zumindest nicht unter normalen Umständen. Die Kiste hat noch nicht einmal Angeln, an denen der Deckel bewegt werden könnte. Die Kiste ist von Bast, einem Angehörigen der Fae, nicht zu öffnen. Was aber ist mit Kvothe, bzw. Kote selbst? Wäre es ihm möglich? „For our purposes“, sagt Kvothe, als Bast nach den Schlüsseln fragt, „assume I have lost the keys“ (DFDW K. 71).

 

Aber wie wir am Ende von TWMF erfahren, als er sie aus ihrer kleinen, hölzernen Kiste holt, hat Kvothe die Schlüssel noch, zumindest zwei von ihnen, doch obwohl er sie benutzt, bleibt die Kiste verschlossen. Es scheint, als hätte Kvothe den dritten und wichtigsten, den Schlüssel für das Schloss, das nicht gesehen werden kann, verloren.

 

Was aber ist in ihr, dass ein Blick auf sie solches Bedauern und solche Sehnsucht in ihm auslöst? Es scheint, als ob sie im Zusammenhang mit dem Verlust seiner Magie, seiner Musik und seiner Kampfkünste steht, die er bei den Adem gelernt hat, also allem, was Kvothe, den Arkanen, ausmachte; in seiner Erzählung besitzt Kvothe all diese Fähigkeiten. Als Kote, der Wirt sind sie fort; stattdessen ist da die dreifach verschlossene Kiste. Die Vermutung liegt nahe, dass der Verlust seiner Fähigkeiten, seines Teils seiner Persönlichkeit mit der Kiste in Zusammenhang stehen, doch ist es überhaupt möglich, seine Fähigkeiten in eine Kiste zu sperren? Einen Hinweis gibt Elodin:

 

 

 

Master Elodin,“ I asked slowly. „What would you think of someone who kept changing their own name?“

 

What?“ He sat up suddenly, his eyes wild and panicked. „What have you done?“

 

His reaction startled me, and I held up my hands defensively. „Nothing!“ I insisted. „It's not me. It's a girl I know.“

 

Elodin's face grew ashen. „Fela?“ he said. „Oh, no. No. She wouldn't do something like that. She's too smart for that.“ It sounded as if he were desperately trying to convince himself.

 

I'm not talking about Fela“, I said. „I'm talking about a young girl I know. Every time I turn around she's picked another name for herself.“

 

Oh,“ Elodin said, relaxing. He leaned back against the tree, laughing softly. „Calling names,“ he said with tangible relief. „God's bones, boy, I thought...“ He broke off, shaking his head. (DFDW Kapitel 149)

 

 

 

Was Elodin offensichtlich angenommen hatte, war, dass Kvothe oder Fela nicht ihren Rufnamen, sondern ihren wahren Namen geändert hatten, etwas, das offensichtlich schreckliche Konsequenzen hätte. Nun treffen wir aber nicht Kvothe, sondern Kote in der Gegenwart an, aus der die Geschichte erzählt wird. Offensichtlich hat Kvothe genau das getan, was Elodin bei der bloßen Erwähnung der Möglichkeit so in Angst und Schrecken versetzte: Er hat seinen wahren Namen geändert. Zusammen mit den beiden Konsonanten hat er alles Außergewöhnliche an sich selbst abgelegt und sich auf den Wirt namens Kote reduziert. Dies ist keine Änderung seiner Persönlichkeit. Kote ist immer noch er selbst, nur ohne das v und das h, ohne Magie und Musik und Kampfkunst. Bereits als Straßenjunge in Tarbean überlegt er sich, dass es nett wäre, einmal der Besitzer eines Gasthauses zu sein und als ihn ein Bote im Gasthaus zum Anker findet, hält dieser ihn für den Wirt:

 

 

 

He looked around the common room. „Though I'm guessing a fellow with a fine inn such as this won't quibble about giving a fellow his due.“

 

I laughed. „This isn't my inn,“ I said. „I just have a room here.“

 

Oh“, he said, obviously a little disappointed. „You looked kinda proprietorial standing there.“ (DFDW, Kapitel 43)

 

 

 

Wie aber ändert man seinen wahren Namen? Es scheint, als hätte Kvothe den Teil seiner Persönlichkeit, den er abspalten wollte, weggesperrt, an den sichersten Ort, den er schaffen konnte, die Kiste aus Roah. Gleichzeitig aber hat er sich damit der Möglichkeit beraubt, die Namensänderung rückgängig zu machen, denn er hat keine Magie mehr, keine Sympathie, nichts, was ihn mächtig genug machen würde, die Kiste zu öffnen. Kvothes Aufgabe für Bast, die Kiste zu öffnen, scheint in diesem Licht betrachtet, wie ein verzweifelter Versuch, seine Tat rückgängig zu machen, während er gleichzeitig weiß, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Niemand anderes als Kvothe kann die Kiste öffnen, die er verschlossen und so das langsame Sterben seiner selbst aufhalten, das er damit eingeleitet hat. Und Kvothe hat sich selbst seiner Macht beraubt. Warum? Vermutlich, weil diese seine Macht die Katastrophe herbeigeführt hat, deren dunkler Schatten auf dem Buch liegt, ohne dass der Leser bisher ihre Gestalt gesehen hat.