Wolfszeit - Bund der Verstoßenen

Prolog

 

Die Straße war schon lange nicht mehr benutzt worden. Ein paar graue Pflastersteine, ihre Seiten zu ebenmäßig, um auf natürliche Weise geformt worden zu sein, ragten aus dem Schlamm, halb versunken, wie Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit. Es war eine der alten Straßen, mit Magie erbaut, damals, als Magie in ihrem Volk noch erlaubt war. Manchmal wünschte Elais sich, sie hätte in jener Zeit gelebt.

Doch damals war nicht mehr als eine Geschichte, die ihre Mutter ihr an langen Abenden erzählt hatte, wenn die Winterwinde die Äste der Bäume zum Schwanken brachten. Jetzt war die alte Straße kaum mehr als ein Pfad, dessen Wurzeln Elais zum Stolpern brachten und dessen Schmelzwasserbäche ihre Haut taub werden ließen. Die einzige Erinnerung daran, dass hier einstmals andere vor ihr gegangen waren, war ein einsamer Wegstein, halb verwittert und rau unter Elais’ Händen. In seiner Mitte ertastete Elais eine kleine Vertiefung. Es war eine Krone und ein Blatt des Lebensbaumes, das Zeichen der alten Könige ihrer Heimat. Wenn sie dem Weg folgte, würden weitere Steine auf sie warten, bis sie schließlich an seinem Ende in Ferian ankommen würde und dort bei der Schule der Magier …

Ich wünschte, der Einsiedler wäre hier, dachte sie. Vielleicht könnte er mir Mut machen.

Doch der Einsiedler war tot und Elais allein.

Die Tränen kamen plötzlich und unerwartet.

Elais erhob sich hastig.

Nein. Nein, nein, dachte sie und wischte sich über die Augen in dem verzweifelten Versuch, die Tränenflut aufzuhalten, doch noch während sie halb blind vorwärts hastete, spürte sie ihre Wangen kühl werden und die Nadelbäume um sie verschwammen zu graubraunen Flecken.

Sie musste an etwas Anderes denken, doch das einzige andere Gesicht, das vor ihrem inneren Auge aufstieg, war das ihres Bruders, wie er sie bei ihrem Abschied angesehen hatte, voller Verachtung.

Menschenfreundin hatte er sie genannt und ihr ins Gesicht gespuckt. In ihrem Kopf breitete sich die Szene erneut vor ihr aus.

Ihre Mutter hatte daneben gestanden, mit Tränen in den Augen. Sie war von Kopf bis Fuß in Silber gewandet, in Trauer um ihre Tochter. Nicht um sie, die vor ihr stand, sondern um die Tochter, die bereits gestorben war, die Tochter, die sie hätte sein können. Die Tochter, die sich niemals dazu entschieden hätte, ihre Heimat zu verlassen, um Magie zu lernen. Ihr Vater beachtete sie nicht. Elais kniete mit einem Herzen, das immer schwerer wurde, vor ihrem Beutel, wickelte Nussbrot in Blätter und legte es hinein. Schließlich stand sie auf, bereit zu gehen, doch ihr Vater sah nicht einmal von seinem Platz auf.

Elorin“, sagte ihre Mutter. „Möchtest du dich nicht von Elais verabschieden?“

Ihr Vater sah auf, fragend.

Möchtest du dich nicht von deiner Tochter verabschieden?“, fragte ihre Mutter wieder.

Da sah er sie an, doch sein Blick glitt über sie hinweg wie Wasser über einen Stein.

Ich habe keine Tochter“, sagte er.

 

Der Schmerz in ihrer Brust war wie ein Stein, der wuchs und wuchs und sie von innen heraus zu erdrücken drohte. Elais biss sich in die Innenseite der Wangen, bis sie Blut schmeckte. Ihre Hände schlossen sich krampfhaft um ihren Stab und für einen Moment wünschte sie sich, dass sie die Kraft hätte, ihn zu zerbrechen und den Kristall an seinem Ende zu zerschlagen.

Es wäre einfach, oh, so einfach ihn zurückzulassen. Sie könnte umkehren und vergessen, dass der Einsiedler ihn ihr je gegeben hatte, dass er ihr gezeigt hatte, was es mit der seltsamen Kraft auf sich hatte, die er manchmal benutzte, wenn nur sie beide zugegen waren.

Du hast eine seltene Gabe“, hatte er zu ihr gesagt, als sie ihre Hand auf den blauen Kristall am Ende des Stabs gelegt hatte und er aufleuchtete. Eine Welle aus Wind ging plötzlich von ihm aus, die ihr die Haare aus dem Gesicht wehte und das Gras um sie kreisförmig niederdrückte. „Du musst lernen, sie zu gebrauchen, sonst richtet sie sich gegen dich.“

Das war, kurz nachdem er in ihre Wälder gekommen war, ein einsamer Wanderer mit einer seltsamen Sprache und seltsam von Angesicht. Doch er hatte gelächelt und lustige Grimassen geschnitten, als Elais sich das erste Mal aus den Baumkronen zu ihm hinabgewagt hatte. Dort, auf dem Erdboden, wo seine Hütte stand, hatte er ihr gezeigt, wie man kleine Tiere aus dem langen Gras flocht, das dort unten wuchs.

Er muss fort!“, hatte ihr Vater in derselben Nacht gesagt. Er sprach mit der Ältesten, während Elais, zitternd in der Kühle der Nacht, vor ihrem Haus hoch oben in den Bäumen kauerte, um nur ja kein Wort zu verpassen. „Es bringt nichts als Unheil, einen Menschen hier zu haben. Noch dazu einen Magier!“

Er hat versprochen, seine Magie nicht zu nutzen“, erwiderte die Älteste. „Er ist aus der Gilde der Magier ausgestoßen worden und hat genug von den Menschen.“

Dann soll er woandershin gehen!“, rief ihr Vater. Eine kurze Pause, in der Elais versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken, um kein Geräusch zu machen. Dann die Stimme der Ältesten, scharf: „Und was willst du tun, wenn er nicht friedlich geht? Denke daran, was das letzte Mal geschehen ist, als ein Elf einen Menschen tötete!“

Elais verstand nicht alles, doch am nächsten Tag, als sie wieder zum Fuß des Baumes stieg, war der Mann immer noch da.

Wie sind deine Haare so dunkel geworden?“, fragte sie ihn, als sie nach einigen Wochen begann, seine Sprache zu verstehen.

Sie waren schon immer so“, erwiderte er. Elais dachte darüber nach. Ihre eigenen Haare und die aller anderen waren hell wie Sonnenlicht, das durch Nebel fällt.

Bist du ein Mensch?“, fragte sie schließlich.

Der Mann lachte. Er hatte ein fröhliches Lachen, das seine Zähne sehen ließ, doch Elais merkte, dass seine Augen traurig blieben.

Und was, wenn ich es wäre?“

Elais antwortete nicht. Sie dachte an all die Geschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, als sie klein gewesen war. Von Drachen, die Feuer und Tod über ihre Wälder brachten, von Eladris Silberhaar, der sie bekämpfte … und von den Menschen. Von ihrer Grausamkeit und dem Krieg, den sie gegen die Elfen führten, der vierhundert Jahre dauerte, bis die Elfen sich tief in ihre Wälder zurückzogen. Doch es wäre unhöflich, dies dem Fremden zu erzählen. Wenn er ein Mensch war, dann sicher ein ungewöhnlicher, schließlich hatte die Älteste gesagt, dass die anderen ihn verstoßen hatten.

Wie heißt du?“, fragte sie stattdessen.

Ein Einsiedler braucht keinen Namen mehr“, sagte er. Elais kannte das Wort nicht, doch von diesem Tag an nannte sie ihn so.

Jetzt wünschte sie sich manchmal, sie hätte nach seinem richtigen Namen gefragt, doch ein Einsiedler war er, als er ihr beibrachte, das Licht in ihr selbst zu finden, das er Magie nannte, und der Einsiedler war er, als er starb.

Versprich mir, deine Gabe zu nutzen“, hatte er gesagt und seine Hände hatten ihre fast schmerzhaft umfasst. „Versprich mir, zur Schule der Magier zu gehen!“

Er sah sie aus seinen milchig blauen Augen an, die nun verschleiert waren, als sähen sie die Dinge um ihn bereits nicht mehr. Es war das erste Mal, dass Elais jemanden sterben sah.

Ich verspreche es“, sagte sie. Der alte Mann schloss seine Augen und zum ersten Mal, seit Elais ihn kannte, lösten sich die tief eingegrabenen Linien seines Gesichtes. Im Tod sah er nicht mehr so alt aus.

 

Der Pfad war nun nichts mehr als Schlamm, der sich schmatzend um ihre Knöchel schloss. Elais wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging dann kurzentschlossen in den Wald hinein, der bis an den Wegrand reichte. Der Einsiedler hatte sie davor gewarnt, die alte Straße zu verlassen, aber er hatte bestimmt nicht vorhersehen können, in welch schlechtem Zustand sie zum Zeitpunkt ihrer Reise sein würde. Außerdem verließ sie die Straße nicht wirklich – sie lief lediglich ein paar Schritte von ihr entfernt im Wald entlang. Es würde beinahe unmöglich sein, sie zu verlieren. Ein paar Meter von der Straße entfernt war der Boden viel trockener und Elais atmete freier. Wenn sie das Tempo beibehielt, wäre sie vielleicht schneller in Ferian als gedacht. Dann hörte sie Stimmen. Sie waren so leise, dass sie keine einzelnen Worte ausmachen konnte, nur Fetzen, die zu ihr drangen, wie das Murmeln eines fernen Baches … Ohne nachzudenken ging Elais in Richtung der Stimmen. Sie war bereits so lange alleine, dass die Einsamkeit wie ein Alb war, der nachts auf ihrer Brust saß und ihr das Atmen schwermachte. Andere zu sehen, wenn auch nur von Weitem, wenn auch nur für ein paar gestohlene Momente, erschien ihr wie ein Schatz. Die Stimmen waren jetzt deutlicher und Elais stolperte, in ihrer Hast, näherzukommen. Manchmal, wenn sie sich anstrengte, gelang es ihr, die Auren derjenigen um sie auszumachen. So hatte der Einsiedler sie genannt. Auren. Es war, als ob jedes Lebewesen aus sich heraus leuchtete, mal schwächer, mal stärker und manchmal so stark, dass ein heller Schein es umkränzte. Unwillkürlich suchte Elais nun nach den Auren der Personen vor ihr und tatsächlich, da waren sie – fünf schwache Umrisse, dunkler als die ihrer Familie und des Einsiedlers, aber dennoch vorhanden. Die Stimmen waren nun deutlicher und Elais konnte einzelne Worte ausmachen.

„… schwöre ich bei Rheya“, sagte ein Mann gerade. „Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.“

Rheya?, dachte Elais verwirrt, wer ist Rheya? Dann merkte sie, dass der Mann nicht in der Sprache ihrer Heimat, sondern in der des Einsiedlers gesprochen hatte und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Die fünf Personen vor ihr waren keine Elfen – sie war bereits seit Wochen unterwegs und hatte die Wälder ihrer Heimat längst hinter sich gelassen. Es waren Menschen, die da in einem Kreis saßen.

Einen Augenblick stand Elais da wie erstarrt. Sie sollte zurückgehen. Sie wusste nichts über die Menschen, die da vor ihr saßen. Der einzige Mensch, den sie je gesehen hatte, war der Einsiedler gewesen. Dann gewann ihre Neugier die Oberhand. Der Einsiedler war auch ein Mensch gewesen und er hatte ihr nichts als Güte gezeigt. Es gab keinen Grund, die Menschen vor ihr zu fürchten. Vorsichtig näherte Elais sich dem Gebüsch, hinter dem die Auren schwach hervorleuchteten und spähte hindurch.

Vier Menschen saßen auf der Lichtung, drei Männer und eine Frau. Sie hatten die seltsam stumpfen Ohren und runden Augen, die auch der Einsiedler gehabt hatte und ihr Haar war rindenfarben. Elais hatte Schwierigkeiten, ihre Gesichter zu unterscheiden. Ihre runden Augen und vorspringenden Nasen ließen sie seltsam gleichförmig erscheinen. Ihre Kleidung war abgerissen und sie rochen nach altem Schweiß, halbverdauten Rüben und Erde. Elais rümpfte die Nase, dann sah sie an sich herab. Ihr einst dunkelgrünes Gewand war zu einem helleren Farbton verblichen und der Saum war zerrissen, dort, wo sie am Tag zuvor an einem Ast hängengeblieben war. Sie hatte sich diesen Morgen zitternd in einem der Schmelzwasserbäche gewaschen, aber nun war sie mit Schlamm bespritzt und Schweiß lief ihren Rücken hinab und ließ ihr Gewand an ihrem Körper kleben.

„… glaub ich nicht“, sagte die Frau gerade. Sie lachte, ein freies, wildes Lachen, das Elais seltsam anziehend fand. „Sicher, dass du nicht etwas von dem Selbstgebrannten des Hauptmanns gemopst hast?“

Ja“, mischte sich einer der Männer ein. „Dann könntest du wenigstens etwas zum Abendessen beisteuern.“ Er lachte ebenfalls, doch der Mann, an den seine Rede gerichtet war, schwieg. Er trug ein Hemd, das wohl einmal blau gewesen sein musste, mit der nun verblichenen Abbildung eines Raubvogels darauf, eines Falken oder Habichts. Zwischen seinen Knien lag etwas, das wohl eine Kopfbedeckung aus Eisen sein mochte, auch wenn Elais sich beim besten Willen nicht erklären konnte, weshalb jemand Kleidung aus Eisen herstellen würde. Elais betrachtete ihn und spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Der Mann hatte Angst.

Glaubt, was ihr wollt“, sagte er gerade, „aber ich bin niemand, der seinen Dienst leichtfertig verlässt. Ich habe Frau und Kinder zuhause.“ Er vergrub das Gesicht in den Händen. „Wer weiß, wann ich sie jetzt das nächste Mal sehen werde.“

Die Frau lachte wieder.

Ach komm“, sagte sie. „Echsen größer als jeder Mann, die auf zwei Beinen gehen und Waffen führen? Als nächstes behauptest du noch, einen Drachen gesehen zu haben.“

Der Mann schwieg und Elais spürte seine Furcht wie ein greifbares Ding.

Lacht nur“, sagte er schließlich. „Vor einem Mond hätte ich mir selbst nicht geglaubt. Doch wenn ihr einmal nachts wachgelegen habt und zwei krallenbewehrte Klauen über das Gras tappen und ein geschuppter Schwanz um euer Zelt streicht, werdet ihr nicht mehr so ruhig und traumlos schlafen.“

Elais wich zurück; ob aus Furcht vor der Erzählung des Mannes oder aus einem anderen Grund, konnte sie später nicht mehr sagen, doch kaum hatte sie einen Schritt getan, als sie kaltes Metall in ihrer Halsbeuge spürte.

Vorwärts“, sagte jemand hinter ihr. Er gab ihr einen Stoß und Elais stolperte auf die Lichtung und fiel. Die Männer und die Frau sprangen auf, als sei ein Geist zwischen ihnen erschienen.

Was ist das?“, fragte die Frau voller Entsetzen und starrte Elais an.

Keine Ahnung“, sagte der Mann hinter ihr. „Aber das hat euch belauscht. Ich würde nächstes Mal vorsichtiger sein.“

Elais spürte die Blicke der fünf Menschen auf sich, die nun in einem Kreis um sie standen und erstarrte. Alle Geschichten von menschlicher Grausamkeit, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, kehrten in einem Augenblick zurück.

Das“, sagte der Mann, der bis jetzt noch nicht gesprochen hatte, „is’ ne Elfe.“

Die anderen zwei Männer und die Frau wichen vor ihr zurück.

Ne Elfe?“, sagte der Mann hinter Elais. „Bist du sicher, Jo? Ich dachte, Elfen sind schon seit hundert Jahren tot.“

So sicher, wie ich hier stehe“, entgegnete Jo. „Schaut sie euch doch an!“

Die Menschen starrten.

Es stimmt“, sagte der Mann neben Jo. „Ihre Ohren sind zu lang und zu spitz. Und ihr Gesicht sieht auch irgendwie komisch aus.“

Und was machen wir jetzt damit?“, fragte der Mann hinter Elais.

Wir können sie nicht gehen lassen“, sagte Jo. „Elfen sind gemein und hinterhältig. Kennt ihr nicht die Geschichten?“

Er zog sein Messer.

Elais erwachte aus ihrer Starre. Später fragte sie sich oft, warum sie nicht einfach mit den Menschen gesprochen hatte, ihnen erklärt hatte, dass sie ihnen nichts Böses wollte. Andererseits, vielleicht hätte es auch keinen Unterschied gemacht. Stattdessen sprang sie auf, in die Richtung des Mannes mit der eisernen Kopfbedeckung. Sie hatte keinen Plan. Nur ein einziger Gedanke erfüllte sie: Weg, nur weg hier.

Die Menschen schrien auf und statt beiseitezutreten, vertrat der Mann mit der Kopfbedeckung ihr den Weg und sie stieß mit ihm zusammen.

Sie hat mich angegriffen“, rief er und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Ihr Stab fiel klappernd zu Boden.

Seht ihr?“, fragte Jo. „Ich hab’s euch ja gesagt. Man kann sie keinen Moment aus den Augen lassen.“

Die Frau zog ebenfalls ein Messer aus ihrem Gürtel. Es war lang und rostig und seine Spitze abgebrochen.

Wir sollten sie töten“, sagte sie. Doch es war Jo, der auf sie zutrat und sich zu ihr herabbeugte, das Messer in der Hand.

Elais’ Gedanken rasten. Dumm. Sie war so dumm. Der Einsiedler hatte ihr hundertmal erklärt, was sie zu tun hatte und stattdessen hatte sie die Nerven verloren. Nun würde sie ihre Familie nie wiedersehen und nie die Tore Ferians erreichen … Das Metall des Messers drückte sich kalt in ihre Halsbeuge.

Halt.

Elais wusste nicht, ob sie das Wort laut ausgesprochen oder gedacht hatte, aber die Zeit verlangsamte sich und hielt schließlich an, wie ein Harzfaden, der sich zwischen Baum und Finger dehnt und langsam erstarrt. Sie öffnete ihre Augen. Sie würde ihre Familie nie wiedersehen, egal, was in diesem Moment geschah, denn sie war verbannt für das schlimmste Verbrechen, das einer ihres Volkes begehen konnte: für den Gebrauch von Magie. Ihre Eltern würden nie wissen, ob sie Ferian erreichte oder ob nur einige Hundert Meilen von Meldoria das Leben aus ihr hinausfloss und die Erde eines einsamen Waldes tränkte. Für ihre Eltern war Elais bereits tot. Sie blickte Jo an, der noch immer das Messer in ihre Halsbeuge gepresst hielt und spürte die metallische Kühle auf ihrer Haut. Wie alles um sie, war auch er erstarrt. Sie konnte sich nicht bewegen, denn Jo hielt sie noch immer in seinem jetzt starren Griff. Elais rief ihre Magie an.

Sie konnte die Kraft spüren. Dort in ihrer Körpermitte war sie und sandte Magie wie warme Wellen von sich aus. Aber noch eine zweite, ungleich stärkere Kraft spürte Elais, und ihr Sitz war in der Mitte des Kristalls, der wenige Schritte neben ihr lag. Doch sie musste den Stab berühren, um sie zu benutzen. Stattdessen streckte sie ihre Hand nach dem Lichtteich in ihrer Körpermitte aus und tauchte sie hinein. Sie nahm nicht alles. Ihre Fingerspitzen ergriffen nur einen dünnen Faden aus Licht, der sich dehnte, als sie ihn aus sich herauszog. Er widersetzte sich ihr, aber sie gab nicht nach. Schließlich zerfaserte der Strang.

Sie hatte dies nie zuvor mit einem Messer an ihrer Kehle getan und sie hatte noch nie solche Angst dabei gehabt. Sie wob keinen Schild um sich, der sie komplett umschloss, wie sie es in ihren Übungsstunden mit dem Einsiedler getan hatte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Stelle, wo das Messer sie berührte. Behutsam, unendlich behutsam schob sie Fäden aus Licht zwischen sich und die Messerklinge. Es war kein Fingerbreit Luft zwischen ihnen, aber dennoch schmiegten sich die Fäden an ihre Haut, als sie sie dorthin führte und gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit. Dann wob sie einen Teppich von Licht um ihre Arme, dort wo die Männer sie gepackt hielten.

Sie atmete aus.

Sie schlug die Augen auf und sah einen Ausdruck der Verblüffung auf dem Gesicht des Mannes vor ihr. Das Messer war immer noch an ihrer Kehle, aber das Gefühl des kalten Metalls war verschwunden.

Was ist, Jo?“, fragte die Frau. „Worauf wartest du?“

Jo erhöhte den Druck des Messers auf ihren Hals, Elais sah, wie die Adern auf seinen Unterarmen hervortraten, aber nichts geschah.

Ich versuch's ja“, sagte er. „Aber es passiert nichts.“ Zeit wegzukommen. Elais spannte ihren Körper an. Sie hatte keine Ahnung, was der Zauber bewirkte, auf diese Weise angewandt. Nun, sie würde es herausfinden. Sie sprang auf. Sie spürte keinen Widerstand an ihren Armen, nur ein kühles Gleiten, wie Wasser, das an den Federn einer Ente abperlte. Im nächsten Moment war sie frei. Einen Augenblick lang war sie so verblüfft wie ihr Gegenüber, sie stand bewegungslos und starrte Jo in die Augen, der fassungslos zurückstarrte, die Hand, die das Messer umfasst hielt, nutzlos herabhängend. Elais bewegte sich als erste. Sie rannte vorwärts, an Jo vorbei, doch die Frau vertrat ihr den Weg.

Es waren zu viele von ihnen, wurde Elais klar, nie würde sie lebendig den Kreis verlassen, den die Menschen um sie geschlossen hatten, sie war zu langsam und die Menschen zu schnell. Stattdessen warf sie sich auf den Stab, der wenige Schritte neben ihr vergessen auf dem Waldboden lag. In dem Augenblick, in dem ihre Hand sich um das warme Holz schloss, packte einer der Männer ihr Haar. Elais’ Kopf wurde zurückgerissen. Plötzlich erfüllte sie brennende Wut. Sie hatte nichts getan und dennoch hatten die Menschen sie angegriffen. Fast ohne zu wissen, was sie tat, griff sie in das eisige Feuer des Kristalls und in ihre eigene Kraftquelle in ihrer Körpermitte und führte die beiden Quellen aus Licht vor sich zusammen.

Die Luft um Elais zerbarst. Der Mann, der ihr Haar gefasst hatte, schrie. Und für einen Lidschlag lang wurde Elais von einem wilden Triumph erfüllt. Sie war stark, stärker als Jo, stärker als der Mann, der ihr Haar gefasst hatte oder die Frau mit dem rostigen Messer. Wenn sie wollte, könnte sie jeden von ihnen zerreißen, zerpflücken, Glied für Glied, wie die Blätter einer Blüte. Dann war der Augenblick vorbei und Elais wurde von der Druckwelle erfasst und zurückgerissen. Ich habe den Schild vergessen, dachte sie, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Alles wurde Schwarz.

 

Als sie wieder zu sich kam, spürte sie jeden Knochen in ihrem Körper. Ihre Haarwurzeln schmerzten und in ihrer Körpermitte, dort, wo ihre Magie war, spürte sie eine Leere, als ob sie zu lange nichts gegessen hätte. Nur dass es nicht Nahrung war, nach der ihr hungerte; sie vermisste den Teil ihrer Kraft, den sie aus sich herausgezogen hatte.

Es war still, so still, dass Elais schließlich wagte, ihre Augen zu öffnen. Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war, es hätten mehrere Stunden sein können oder auch nur ein paar Augenblicke. Es war immer noch Tag, zu viel Zeit konnte also nicht verstrichen sein. Sie spürte die Auren der Menschen um sich, reglos am Boden liegend und schwächer als zuvor, aber immer noch da. Mit plötzlicher Intensität bemerkte sie die Hand des Mannes, der ihr Haar gepackt hatte, an ihrem Hinterkopf. Elais lag auf ihr. Ekel überkam sie. Sie setzte sich abrupt auf, nahm ihren Stab und erhob sich mühsam. Sie wäre gerne fortgelaufen, aber ihre Beine zitterten und weigerten sich, sie zu tragen. Ihr ganzer Körper zitterte.

Sie hatte Angst. Sie hatte Angst vor dem, was vor ihr lag, vor dieser Straße, die sie werweißwohin führen würde, zu neuen Begegnungen mit anderen Menschen. Sie hatte Angst vor ihrem Ende, vor der Schule der Magier, in einer unbekannten Stadt voll fremder Leute. Aber wenn sie ehrlich war, dann war das, was ihr am meisten Angst einflößte, dieser winzige Moment, so kurz, dass es einfach sein würde, ihn in den Tagen, die da kommen würden, zu vergessen – der Moment, in dem sie keine Angst empfunden hatte, sondern nichts als weiße Wut und ein Gefühl des Triumphes.

 

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