Ist Jon Snow tot?

Wir kennen sie alle, die perfide Art mit der bei Game of Thrones Spannung gehalten wird: Hauptfiguren sterben wie die Fliegen, andererseits erleben längst Totgesagte ein Comeback, wie beispielsweise Catelyn Stark, die als Zombie mit Namen Stoneheart wieder aufersteht oder auch Brienne von Tart, die von besagtem Zombie eigentlich im letzten Band der Serie erhängt wird, in der Fernsehserie aber fröhlich weiterlebt.

 

Nun ist George R.R. Martin aber eindeutig zu weit gegangen: Wie konnte er nur Jon Snow töten, Jon Snow, den Fanliebling, Jon Snow, den Retter des Nordens, der erst ganz am Anfang seiner Karriere steht... und das bevor er seine Mutter kennengelernt hat! Oder ist er wie Catelyn und Brienne oder Bran ganz zu Beginn des Buches doch nur scheinbar gestorben und wird im nächsten Band als Zombie/Werwolf/Auferstandener wiederkehren?

 

Tatsächlich kann man den Tod der Figuren, wenn auch nicht voraussagen, so doch mit Sicherheit erkennen, wenn er denn eingetreten ist, sämtliche Tode der Hauptfiguren, also der Figuren, aus deren Perspektive die Geschichte im Buch erzählt wird, folgen nämlich einem bestimmten Muster.

 

Einer der Ersten, der zu Beginn der Serie sterben musste, war Ned Stark, dessen Tod überraschend auftrat, hatte er doch gerade sein Überleben gesichert, indem er einen Handel mit den Lannisters eingegangen war (wer sich nicht mehr erinnert: Cersei versprach ihm sein Leben, wenn er widerrief, dass ihr Sohn inzestuös gezeugt sei). Stattdessen ließ Joffrey ihn spontan enthaupten. Selbst schuld, könnte man sagen.

 

Später stirbt dann Robb und beinah Catelyn bei der Roten Hochzeit. Warum? Der Herr der Burg, Walder Frey, ist sauer, weil Robb nicht wie versprochen eine seiner zahlreichen Töchter geheiratet hat. Robb hat also sein Versprechen gebrochen, ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, die den geistig behinderten Enkel Freys als Geisel nimmt und ihm damit droht, ihn zu töten, sollte er Robb nicht verschonen. Die letzten Worte des Kapitels, bevor Catelyn selbst die Kehle durchgeschnitten wird, unterstreichen, dass sie ihr Versprechen gehalten hat.

 

Ein Muster beginnt sich abzuzeichnen. Anscheinend stirbt man in der Welt von A Song of Ice and Fire immer dann, wenn man ein Versprechen bricht, oder, wie Ned, gegen seine innere Überzeugung handelt. Catelyn Stark ist dabei ein starkes Gegenbeispiel. Schließlich müsste sie allen Regeln nach tot sein, man überlebt es schließlich nicht so einfach, wenn einem die Kehle durchtrennt wird und vorher wurde nie erwähnt, dass manche Menschen als Zombies wiederkehren.

 

Ein weiteres Beispiel, welches die These erhärtet, findet sich in Brienne, die, eigentlich von Stoneheart (Zombie-Cat) erhängt, dennoch weiterlebt. Die letzte Unterhaltung, die sie mit Cat hat, bevor diese sie hinrichtet, dreht sich darum, ob Brienne ihr Versprechen Catelyn gegenüber gebrochen hat, da sie nun nicht mehr nach ihren Töchtern sucht, sondern im Auftrag Jaimes unterwegs ist. Brienne bleibt aber bis zum letzten Moment standhaft; sie kann in dem Bewusstsein sterben, dass sie nicht ihrer Ritterehre zuwidergehandelt hat – aber siehe da: sie lebt.

 

Tatsächlich kommt es bei manchen Hauptfiguren auch zu kleinen Toden; immer dann, wenn sie gegen ihre innere Überzeugung handeln, aber nicht so gravierend, dass sie deswegen sterben müssten. So stirbt Sansa nicht, als es zwischen Arya und Joffrey zur Krise kommt und sie sich in der Frage, ob Aryas Wolf, Nymeria, Joffrey ohne Provokation angegriffen hat, auf die Seite ihres Verlobten stellt, obwohl sie es eigentlich besser weiß. Tatsächlich sagt sie weder für noch gegen ihre Schwester aus – sie lügt also nicht, sie schweigt. Dennoch wird ihr Verhalten bestraft: Eigentlich sollte ja Nymeria hingerichtet werden, da aber Arya die Wölfin mit Steinen vertreibt, versteift sich Cersei stattdessen auf Lady, Sansas Wölfin, als neues Opfer. Also erleidet nicht Arya, sondern Sansa den permanenten Verlust ihres zweiten Ich.

 

Wenn man also bei a song of ice and fire nur stirbt, wenn man einen Moralkodex verletzt, wie steht es dann mit den Bösewichtern? Wenn jemand, wie Cersei oder Joffrey, keinen nennenswerten Moralkodex hat, wäre er theoretisch unsterblich, oder? Jein. Joffrey stirbt bei seiner eigenen Hochzeit, vergiftet von der Familie seiner Braut, weil Maergaerys Großmutter zwar will, dass ihre Enkelin Königin wird, aber nicht, dass sie der Willkür eines unberechenbaren Sadisten ausgeliefert ist, der er, laut Sansas Bericht, nun einmal ist. Nun hat Joffrey nicht gegen seine innere Überzeugung gehandelt, könnte man sagen, er ist aber dennoch als Konsequenz seines Handelns gestorben. Allerdings weiß man das nicht so genau, denn: man kann nicht in Joffreys Kopf sehen. Er ist schließlich kein Charakter, dessen Perspektive wir im Buch einnehmen.

 

Und es gibt noch eine weitere Ausnahme: Zu Beginn jedes Bandes gibt es einen Prolog, in dem die Person, aus deren Perspektive berichtet wird, unumgänglich stirbt. Nun haben der Soldat und der Priester und wer auch immer noch mal da berichtet, nicht gegen ihre Überzeugung gehandelt. Tatsächlich sterben sie oft, gerade weil sie nicht rechtzeitig die Beine in die Hand nehmen und aus der potentiell tödlichen Situation fliehen. Die Erklärung? Es sind keine Hauptfiguren. Die Prolog-Figuren existieren nur, um uns, den Lesern, deutlich zu machen, wie tödlich die Welt von Game of Thrones tatsächlich ist, um fehlende Informationen zu liefern und um Spannung aufzubauen. Nachdem sie ihre Rolle gespielt haben, sterben sie.

 

Die Regel, die man aus den Todesfällen ableiten kann, ist also folgende: Eine Hauptfigur, aus deren Perspektive geschildert wird, stirbt in Game of Thrones nur, wenn sie gegen ihre innere Überzeugung handelt und dann immer als direkte Folge ihres Handelns.

 

Ist Jon Snow also tot? Mal sehen: Er ist eine Hauptfigur (check), aus deren Perspektive geschrieben wird (check), er hat einen gravierenden Verstoß gegen die Regeln der Schwarzen Bruderschaft begangen (check) und stirbt als direkte Konsequenz seines Handelns (check): Er hat den ersten Grundsatz der Bruderschaft verletzt, den Schwur, in dem er allen Familienbanden abgesagt hatte und in dem er geschworen hatte, die Interessen der Brüderschaft über seine persönlichen zu stellen. Jon Snow wurde in seiner Zeit als Wächter bereits mehrfach in Versuchung geführt. Direkt nachdem er seinen Schwur getan hatte, wollte er fliehen, nachdem er von den Schwierigkeiten hörte, in denen seine Familie steckte und konnte nur von seinen Waffenbrüdern, insbesondere Sam davon abgehalten werden. Dann verriet er scheinbar die Brüderschaft, indem er sich mit den Völkern jenseits der Mauer verbrüderte und seinen Keuschheitsschwur mit Ygritte brach. Aber während all dessen war er in seinem Herzen immer noch ein Wächter und als der entscheidende Moment kam, stellte er sich gegen Ygritte und auf die Seite seiner Waffenbrüder (weshalb Ygritte denn auch starb, wenn auch nicht von seiner Hand).

 

Er hatte also einmal vor, gegen seinen Schwur zu handeln, wurde dann aber davon abgehalten, und ein zweites Mal handelte er wirklich gegen seinen Schwur, blieb in seinem Herzen aber seinen Grundsätzen treu.

 

Aber als er hörte, dass Sansa in Winterfell gefangen gehalten wurde, machte er sich daran, seinen Schwur wirklich und endgültig zu brechen, indem er a) seine Machtposition als Kommandant dazu nutze, seine Familieninteressen zu fördern und b) er seine persönlichen Interessen über die der Wache stellte. Als Konsequenz seines Handelns kam es zu einer Meuterei, in der er getötet wurde. The end.

 

Es kann also davon ausgegangen werden, dass, ja, Jon Snow wirklich und endgültig tot ist und auch nicht als Widergänger aufersteht oder sonstwie überlebt.

 

So schade das ist, sind aber vor allem die Implikationen für das Buch selbst interessant: A song of ice and fire ist eine Reihe, die durch ihre Darstellung von Gewalt und Sexszenen auffällt. Die Darstellung dieser Elemente ist in der Serie auf die Spitze getrieben worden, weswegen sie wohl auch so erfolgreich ist; egal welche Episode man anschaut, man kann sich sicher sein, dass eine entblößte Brust oder/und Blutgespritze nicht weit sind. Scheint es in der Fernsehserie nur darum zu gehen, so sind Gewalt und Sex im Buch nicht das Hauptthema. Tatsächlich besteht der größte Teil des Textes aus innerer Handlung, also Passagen, in denen die Gedanken und Gefühle der Figur dargestellt werden. Und jede einzelne Figur handelt nach ihren eigenen Überzeugungen, die sich von Figur zu Figur drastisch unterscheiden. Mit dem Verzicht auf eine allwissende Perspektive hat George R.R. Martin also auf noch weit mehr verzichtet, nämlich auf einen übergeordneten Moralkodex. In Game of Thrones gibt es scheinbar kein Gut und Böse mehr, kein Schwarz und Weiß, nur noch endlose Grauschattierungen. Dies gilt für die dunkelsten Figuren genauso wie für die scheinbar hellsten. Hat Daenerys wirklich recht gehandelt, indem sie die Hexe (ihr wisst, wen ich meine) bei lebendigem Leib verbrannte? Zeugt das nicht von einer altbiblischen Grausamkeit, einem Auge für Auge, Zahn für Zahn-Denken? Wir wissen nur, dass die Gesetze der Magie anscheinend Menschenopfer verlangen und dass Daenerys Drachen, die Grundlage ihrer Kraft, eigentlich symbolisch ihre Kraft selbst, dadurch schlüpfen. Daenerys zweifelt nicht, dass sie richtig gehandelt hat und das macht in einem Universum, in dem der Glaube an die Richtigkeit des eigenen Handelns entscheidend ist, ihren Erfolg aus.

 

Das Universum des Buchs spiegelt damit auch gleichzeitig unsere heutige Gesellschaft wieder: In einer Welt, in der es nur noch An-sichten (Perspektiven) gibt, fühlt sich der Einzelne oft orientierungslos. Man kann sich schließlich vom Büffet der Glaubensrichtungen fast alles aussuchen: ob (im Westen) altbewährtes Christentum, Buddhismus oder Nihilismus – die Möglichkeiten sind endlos. In einer Welt, die also von Chaos beherrscht wird, in der alle Strukturen zusammenbrechen und Gewalt an der Tagesordnung ist, gibt George R.R. Martin seinen Protagonisten einen letzten Anker: Sie müssen sich auf ihre innere Stimme verlassen, die, die ihnen sagt, was gut und richtig ist. Damit scheinen die „Bösen“ einen deutlichen Vorsprung zu haben; denn was könnte eine Cersei zu Fall bringen? Dennoch; so lange sich die Protagonisten nach ihrer inneren Überzeugung richten, leben sie. Das Spiel geht also weiter; und wer die stärkste, in sich gefestigte Persönlichkeit hat, gewinnt.

 

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Comments: 1
  • #1

    Bjela (Sunday, 18 September 2016 17:19)

    Gut, er ist also nicht tot, bzw. er war tot, ist dann aber wieder auferstanden. Um bei der aufgestellten Theorie zu bleiben, ließe sich das so erklären, dass er zwar vorhatte, die Regeln der Bruderschaft zu brechen, sie aber de facto noch nicht gebrochen hatte; er war nur gerade auf dem Weg dahin. Für den Vorsatz musste er sterben, konnte aber wiederauferstehen, da er ihn noch nicht in die Tat umgesetzt hatte.